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Hast du mal darüber nachgedacht, wie sich der Bettler wohl fühlen mag, der dort am Boden hockt? Vielleicht war er nicht immer ein Bettler und so herunterkommen wie jetzt. Wer kennt schon sein Schicksal und was ihn zu dem gemacht hat, was er jetzt ist?
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Peter Reifegerste
Peter
Reifegerste

Kurzgeschichte, Satire, Sarkasmus

Der Bettler und das Kind

Oder: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder...

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Hast du mal darüber nachgedacht, wie sich der Bettler wohl fühlen mag, der dort am Boden hockt? Vielleicht war er nicht immer ein Bettler und so herunterkommen wie jetzt. Wer kennt schon sein Schicksal und was ihn zu dem gemacht hat, was er jetzt ist?


Kurzgeschichte von Peter Reifegerste

Der Bettler und das Kind

Oder: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder...

Kind: Mama, warum sitzt der Mann da auf der Straße?

Mutter: Der bettelt um Geld. Los komm, lass uns weiter gehen. Und guck da nicht so hin, das macht man nicht!

Kind: Warum sitzt er auf dem Boden?

Mutter: Er arbeitet nicht und dann muss man eben betteln. Aber jetzt lass uns endlich weitergehen. Und iss dein Eis auf, es ist ja schon ganz weich.

Kind: Warum hat er so komische Beine, Mama?

Mutter: Nun pass doch auf, Doris. Du kleckerst dir ja das ganze Kleid voll.

Kind: Mama, der Mann guckt uns immer so an.

Mutter: Ja, das hat Mama auch schon gesehen. Hier hast du ein Geldstück, das wirfst du dem Mann jetzt in seinen Hut und kommst sofort zurück zu mir. Danach gehen wir auf die andere Straßenseite, dann guckt er bestimmt nicht mehr zu uns rüber.

Hast du jemals darüber nachgedacht, wie sich der Bettler wohl fühlen mag, der dort am Boden hockt? Vielleicht war er nicht immer ein Bettler und so herunterkommen wie jetzt. Wer kennt schon sein Schicksal und was ihn zu dem gemacht hat, was er jetzt ist?

Vielleicht führte er früher einmal ein ganz anderes Leben. Vielleicht war er einmal ein großer Künstler oder ein Artist. Ja, genau - vielleicht war er einmal ein Artist, ein Seiltänzer, einer der "ganz Großen" seiner Zeit. Wer weiß das schon so genau...

Sein Name stand in der Zirkuswelt für waghalsige und spektakuläre Hochseilakrobatik. Er war mit seiner Truppe stets die große Attraktion und der absolute Höhepunkt in jedem Zirkus. Schon Wochen vorher hingen in der Stadt überall große Plakate an den Wänden, auf denen er in riesigen Buchstaben angekündigt wurde. Die Leute kamen scharenweise in den Zirkus, nur um ihn und seine Truppe einmal zu sehen und um später einmal sagen zu können:

Ich habe ihn damals noch mit eigenen Augen gesehen, wie er hoch oben unter der Zirkuskuppel seinen berühmten drei-ein-halb-fachen Salto rückwärts machte. Mann, war das eine Sensation. Wenn er sich zum Sprung bereit machte, hielten alle den Atem an, die Musikkapelle verstummte, und das Publikum starrte gebannt in die Zirkuskuppel. Alle Augen waren in diesem Moment nur auf ihn gerichtet und keiner wagte auch nur einen Laut von sich zu geben. Es herrschte totenstille.

Dann, endlich, schwang er sich hin und her, einmal, zweimal, wurde immer schneller und schneller und plötzlich flog er durch die Luft, kauerte dabei seinen Körper katzenhaft zu einer winzigen Kugel zusammen und drehte sich dabei um sich selbst, so schnell wie ein rotierender Propeller. In diesem Moment schien es, als würde die Zeit für einen kurzen Moment stehen bleiben. In den Gesichtern der Zuschauer stand ungläubiges Staunen.

Dann, blitzschnell, schossen aus dieser rotierenden Menschenkugel ein Paar Arme heraus und diese wurden ebenso schnell vom herankommenden Fänger gepackt und nicht mehr losgelassen. Sie schienen wie Stahlstagen zusammengeschweißt zu sein. Dann schwang er sich zurück und entrollte dabei seinen Körper wieder zur ganzen Größe aus und landete schließlich voller Grazie und Anmut wieder auf seinem ursprünglichen Platz unter der Zirkuskuppel.

Das Publikum war außer sich. Jetzt hielt es keinen mehr auf den Sitzen. Alle sprangen auf und ein donnernder, ohrenbetäubender Applaus fegte durch die Manage. Der Kapellmeister klopfte hektisch mit seinem Taktstock auf dem Notenständer herum, worauf die Musikkapelle hastig einen Tusch spielte. Währenddessen verbeugten sich hoch oben die Artisten wie Balletttänzer, grazienhaft und mit einem strahlenden Lächeln, und sonnten sich in der Gunst des Publikums. Es war unbeschreiblich...

Doch eines Tages, als er und seine Truppe sich wieder einmal unter der Zirkuskuppel zu einer gigantischen Menschenpyramide aufgebaut hatten, in den Händen lange Holzstangen balancierend, sich langsam auf dem Seil vorwärts bewegten, passte er nur für einen Moment lang nicht auf, verlor die Balance auf dem Seil und riss sich und alle anderen mit in die Tiefe. Diesen endlos langen Sturz in die Manage - es waren nur Sekunden, aber für ihn war es eine Ewigkeit. Diese ungläubigen, entsetzten und angsterfüllten Gesichter seiner Kameraden, die er mit sich riss. Sie streckten noch im Fallen hilfesuchend die Arme nach ihm aus, als ob er sie retten könnte, er, der doch selbst mit in die Tiefe stürzte. Nichts konnte er mehr tun... nichts... gar nichts...
Ohnmächtig sah er zu, wie einer nach dem anderen, nach einem schier endlos langen Fall, unten auf den Boden aufschlug und ihre Körper regungslos liegenblieben. Dann schlug auch er, mehr tot als lebendig und mit zerschmettertem Körper unten auf. Doch wie durch ein Wunder überlebte er als Einziger diesen Sturz. War das nun ein Segen oder ein Fluch?
Ja, das Schicksal geht manch seltsame Wege...

Das alles ist jetzt schon so viele Jahre her, doch die Erinnerungen daran wollen nicht verblassen. Dieser Schock und die Schuldgefühle haben sich tief in seine zusammengeschraubten Knochen und seinem schweren Herzen eingefressen. Aber am schlimmsten sind die Stimmen, die Stimmen in seinem Kopf. Sie geben einfach keine Ruhe, auch nicht nach so vielen Jahren. Egal wohin er geht oder was er auch macht, sie sind immer präsent und sie sagen immer und immer das gleiche: "Es ist DEINE Schuld, dass alle tot sind! Warum hat es ausgerechnet DICH nicht erwischt, obwohl DU doch an allem Schuld bist? Ja, DU bist Schuld!... Du bist Schuld!... Du bist Schuld!..."

Fast jede Nacht plagt ihn dieser schreckliche Alptraum und lässt alle Erinnerungen an diesen endlosen Sturz in allen Einzelheiten wieder in ihm auflodern. Erschrocken und schweißgebadet erlöst das Aufwachen ihn allmorgendlich aus seinem Höllenszenario und schleudert ihn dennoch zugleich hinein in die bittere Realität eines Außenseiters der Gesellschaft. Doch auch am Tage kehren seine Gedanken immer wieder zurück zu den Geschehnissen von damals und zurück zu der quälenden Frage: "Wie konnte mir das nur passieren? Was habe ich nur falsch gemacht?"

Mit kindlicher Offenherzigkeit und Neugier und mit einer ganz natürlichen Selbstverständlichkeit, betrachtet das kleine Mädchen den am Boden hockenden Krüppel. Seine Krücken, seine deformierten Beine und ganz besonders sein bärtiges, raues Gesicht. Nachdem sie alles ausgiebig studiert hat, legt sie ihm fröhlich ein Geldstück in seinen Hut. Dabei schaut sie ihm sanft ins Gesicht und sagt mit einem Ausdruck in der Stimme, die nicht von dieser Welt stammt: "Sei nicht mehr traurig, es war nicht deine Schuld".



© Peter Reifegerste. Alle hier angezeigten Werke sind urhebergeschützt. Sie dürfen nur für den persönlichen Gebrauch verwendet werden. Jede Form der Vervielfältigung, Vermietung, Aufführung oder Verbreitung ist nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Autors erlaubt.